Atomkraft oder Kernenergie – die Technologie changiert heute zwischen „No-Go-Area“ und „Must-Have-Tool“ in einer klimaneutralen Welt. Das Thema polarisiert mit einerseits extremen Risiken und andererseits dem Versprechen, Strom in großen Mengen CO2-frei, wetterunabhängig und kostengünstig zu erzeugen. Eine Studie des Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) hat nun die Kosten der Kernenergie in Deutschland seit 1955 verdeutlicht.
Weltweit sind Mitte 2020 nach Angaben des Branchenverbands Kerntechnik Deutschland in 35 Ländern 440 Kernkraftwerke in Betrieb. In vielen Ländern gehören Atomkraftwerke auch zur Energieversorgung der Zukunft dazu: 54 Anlagen sind weltweit derzeit in Bau. Aus deutscher Perspektive ist die Kernenergie hingegen vor allem eine Technologie der Vergangenheit. Nach Angaben des Verbandes Kerntechnik Deutschland waren im April 2020 noch 6 Kernkraftwerke mit einer Leistung 8.545 MW in Betrieb. 29 Standorte sind bereits stillgelegt, im Rückbau oder bereits nicht mehr vorhanden. Der nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima begonnene schrittweise Ausstieg soll bis 2022 abgeschlossen sein.
Vor 65 Jahren eine Innovation
Die extremen Standpunkte von Befürwortern und Gegnern der Technologie machen es nicht einfach, sich rein rational mit der Kernenergie zu beschäftigen. Unabhängig von der Frage, ob die Anlagen künftig einen Beitrag zur CO2-freien Stromerzeugung liefern sollten, lässt sich aus der Vergangenheit ablesen, was es bedeutet, eine neue, umstrittene Technologie für den Markt zu erschließen.
Ob erneuerbare Energien, Elektromobilität oder Wasserstoff – neue Technologien brauchen oft eine spezielle Infrastruktur, die der Markt allein nicht bereitstellt. Um das legendäre „Henne-Ei-Problem“ zu lösen, ist es notwendig, dass jemand in Vorleistung geht und die Infrastruktur aufbaut, obwohl es kaum Anwendungen dafür gibt. Eine staatliche Förderung von Infrastruktur kann so eine Basis schaffen, auf der innovative Unternehmer agieren können. Ein Blick auf die Hype-Technologie der 1950er Jahre macht deutlich, wie groß der gesellschaftliche Aufwand dabei sein kann.
Finanzhilfen, Steuervergünstigungen und Rückstellungen
Das FÖS beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den staatlichen Unterstützungen, die in die Kernenergie geflossen sind. In der aktuellen Studie „Gesellschaftliche Kosten der Atomenergie in Deutschland“ werden die Kosten der Technologie in den letzten 65 Jahren in Deutschland untersucht. Die Berechnungen im Auftrag von Greenpeace Energy zeigen, wie weitreichend die staatliche Unterstützung war und welche Belastungen noch zu erwarten sind. Unterschieden wird dabei zwischen betriebswirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Kosten.
Studienleiterin Swantje Fiedler erwartet auch weiterhin staatliche Ausgaben für die Atomenergie (Bildquelle: FÖS) Mit Blick auf den im Jahr 2022 voraussichtlich beendeten Kraftwerksbetrieb in Deutschland hat das FÖS eine Bilanz aller Kosten der rund 100 Anlagen für Energieerzeugung und Forschung seit 1955 gezogen: „Nach unseren Berechnungen haben Atomkraftwerke, Forschungsreaktoren und Lager für radioaktive Abfälle in großem Stil staatliche Unterstützung erhalten. Inflationsbereinigt in Preisen von 2019 ergibt sich eine Summe von 287 Mrd. Euro durch Finanzhilfen, Steuervergünstigungen sowie budgetunabhängige Förderungen durch Emissionshandel und Rückstellungen für den Zeitraum 1955 bis 2022“, erläutert Studienleiterin Swantje Fiedler, FÖS.
Darin enthalten sind auch Ausgaben, die nicht direkt in die Stromerzeugung geflossen sind, sondern im weiteren Sinne im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Branchen stehen. Darunter fallen die Ausgaben für Mitgliedschaft in der europäischen Organisation EURATOM und die Stilllegung der Kernkraftwerke in Ostdeutschland.
Billig war der Strom nie

Sönke Tangermann hält neue Atomprojekte für realitätsfern. (Bildquelle: Christine Lutz/Greenpeace Energy)
Im Zeitraum von 1970 bis 1922 lieferten die deutschen Atomkraftwerke 5.410 TWh Strom, so die FÖS-Studie. Um die Produktion monetär zu bewerten, werden Marktwert, staatliche Förderungen sowie externe Kosten berücksichtigt: Stromerzeugung aus Kernenergie wurde im Zeitraum 1955 bis 2022 mit 249 Mrd. Euro inflationsbereinigt gefördert. Die entspricht im Durchschnitt rund 4,6 Cent pro Kilowattstunde. „Ein Großteil der angefallenen Kosten war im Strompreis nie enthalten, weshalb Atomenergie fälschlicherweise als kostengünstige Stromquelle galt“, kritisiert Sönke Tangermann, Vorstand von Greenpeace Energy. „Die inzwischen in die Jahre gekommene Infrastruktur mit immer größeren Risiken kann keine Alternative sein, um die Klimaziele effektiv zu bekämpfen.“ Tangermann hält daher eine Debatte um Neuinvestitionen und Laufzeitverlängerungen für realitätsfern.
Die Berechnungen bezieht sich insbesondere auf Daten aus den Jahren 2007 bis 2019, in denen vergleichbare Börsenpreise vorliegen. Bis zur Liberalisierung der Energiemärkte im Jahr 2000 arbeiteten die Elektrizitätsunternehmen in Gebietsmonopolen und es gab nur wenige Lieferanten. Die Autoren konnten hier nicht auf Dokumentationen zugreifen und haben für die Zeit vor 2007 Abschätzungen getroffen.
Die Arbeiten des FÖS haben in der Vergangenheit immer wieder Debatten in Politik und Wirtschaft ausgelöst. Umstritten ist insbesondere die Methodik, externe Kosten zu internalisieren und die Berechnungen an umwelt-ökonomisch optimalen Bedingungen auszurichten. Die betrifft insbesondere die Annahmen zu den steuerlichen Vergünstigungen und zum Emissionszertifikatehandel. Die aktuelle Studie kommt bei Hochrechnung aller externen Kosten für den gesamten Zeitraum 1955 bis 2019 auf mehr als 1 Billion Euro in heutigen Preisen.
Forschungsförderung als Starthilfe
Nach rein unternehmerischen Maßstäben hätte Kernenergie 1955 wohl wenig Chancen auf eine Entwicklung in industriellen Dimensionen gehabt. Die Autoren verweisen auf die Skepsis der Stromerzeuger in die neue Technologie zu investieren, obwohl sie im Rahmen der geltenden Monopolstrukturen, die Möglichkeit hatten, ihre Kosten vollständig an die Kunden weiterzugeben. Nur durch finanzielle Zugeständnisse seitens des Staates seien die Stromkonzerne in den Anfängen der Atomenergienutzung überhaupt bereit gewesen, in diesen Bereich einzusteigen, so die Studie.
Für die nukleare Forschungsförderung beziffert das FÖS die realen Ausgaben des Bundes im Zeitraum von 1955 bis 2022 auf 68,4 Mrd. Euro. Diese Zahl bezieht sich insbesondere auf die Kerntechnische Sicherheit und Entsorgung, die Beseitigung kerntechnischer Anlagen und die Fusionsforschung.
Nach Angaben von Kerntechnik Deutschland wurden anfangs kleine Forschungsreaktoren gemeinsam von Energieunternehmen und Herstellern betrieben, die staatlich unterstützt wurden. Die Stromerzeugung in den Kraftwerken und auch der Rückbau der stillgelegten Anlagen erfolgte durch die Unternehmen im Rahmen der damaligen Marktstrukturen.
Für den Rückbau der Atom-Infrastruktur der DDR sind nach Angaben der Studie sind von 1990 bis 2020 rund 4,22 Mrd. Euro inflationsbereinigt ausgegeben worden. Bis zum vollständigen Abschluss der Arbeiten wird mit weiteren Kosten von 2,2 Mrd. Euro gerechnet.
Als weitere Kosten, die mit der Atomenergie zusammenhängen, wurde auch die Installation eines bundesweiten Messnetz zur Überwachung der Umweltradioaktivität einbezogen. Dieses System wurde nach dem nuklearen Unfall in Tschernobyl durch die Bundesregierung finanziert.
Fehlende Akzeptanz in der Gesellschaft
In der deutschen Bevölkerung gab es viel Wiederstand gegen die Atomkraft. Dies schlägt sich in den Kosten für die Sicherheit nieder: Für die polizeiliche Absicherung von Castortransporten belegt die Studie inflationsbereinigt rund 345 Mio. Euro. Nicht erfasst sind dabei Polizeieinsätze bei Großdemonstrationen wie sie in Wyhl, Kalkar, Wackersdorf, Brokdorf, Grohnde und Gorleben stattgefunden haben.
Internationale Zusammenarbeit
Unabhängig der Nutzung im eigenen Land, bleibt Deutschland Mitglied in der europäischen Organisation EURATOM. EURATOM unterstützt den Neubau von Atomkraftwerken insbesondere durch Standards bei Haftung und Subventionierung. Bis 2027 werde das für Deutschland einen jährlichen Beitrag von 0,34 Mrd. Euro bedeuten. Das britische Kernkraftwerk Hinkley Point C und die geplante Erweiterung des ungarischen Kernkraftwerks Paks profitierten derzeit von diesen Regelungen, so die Studie.
Das Forschungsprojekte ITER ist im EU-Haushalt mit 8,2 Mrd. Euro eingeplant. In welcher Höhe Deutschland dazu beitragen wird ist nach Einschätzung der Autoren ebenso wenige abschätzbar wie Beiträge an internationale Organisationen wie IAEO und CERN.
Endlagerung noch zu Klären
Mit dem Ausstiegsbeschluss ist die öffentliche Diskussion um den umstrittenen Energieträger in Deutschland ruhiger geworden. Offen ist die Frage nach der Endlagerung der radioaktiven Abfälle. Von den Kraftwerksbetreibern wurde zur Finanzierung ein Fonds von 24 Mrd. Euro gebildet. Die Erkundung des Salzstocks Gorleben wird im Finanzplan des Bundesumweltministeriums von für 2021 und 2022 mit jeweils 12 Mio. angesetzt. Inflationsbereinigt kommt die Studie auf 321 Mio. Euro im Zeitraum 1977 bis 2020 für die Erkundung in Gorleben. Für das Endlager Konrad wird derzeit mit einer Gesamtsumme von 4,2 Mrd. Euro gerechnet. „Weitere staatliche Ausgaben könnten hinzukommen, wenn der 2017 eingerichtete Atomfonds nicht ausreicht, um die Kosten für ein künftiges Endlager zur decken“, erläutert Fiedler.
Bis ein Lagerstandort gefunden ist, befindet sich das radioaktive Material in Zwischenlagern. „Das Strahlen-Risiko, das von diesen Standorten ausgeht, ist zwar geringer als bei einem laufenden Reaktor. Auf den Behörden laste jedoch eine Verantwortung für die nächsten 1 Million Jahre. Das ist mehr als die bisherige Geschichte der Menschheit,“ erklärt Heinz Smital, Atomexperte Greenpeace Deutschland.
Schwer abschätzbare Risiken
Die FÖS-Studie verweist neben den belegbaren Kosten auf einen weiteren Faktor hin, der nur schwer zu quantifizieren ist. Wie groß ein Schaden durch einen radioaktiven Unfall sein kann und wie hoch die Wahrscheinlichkeit dafür ist, darüber gehen die wissenschaftlichen Meinungen auseinander. Nach Einschätzung von Smital sind die bekannten Unfälle in Tschernobyl und Fukushima vergleichsweise klein gewesen und die Auswirkungen auf die Umwelt waren regional begrenzt.
Die derzeit gültigen internationalen Nuklearhaftungssysteme werden vom FÖS als nicht ausreichend gesehen. Die Autoren gehen davon aus, dass ein nuklearer Unfall im dreistelligen Milliardenbereich liegen kann. Die aktuellen Übereinkommen von Paris und Brüssel erfordern Deckungsvorsorgen von bis zu 381 Mio. Euro. Selbst in Belgien, den Niederlanden und der Schweiz sind nur 1 Mrd. Euro vorgeschrieben.
Um die Entwicklung der Kernenergie zu verstehen, sollte auch ein weitere Treiber beachtet werden, der in der Studie nicht erwähnt wird. Neben der Energieerzeugung gibt es ein militärisches Interesse an dem Know-how der Technologie und dem radioaktiven Material. „Bei Hinkley Point C sehen wir einen klaren Zusammenhang zwischen dem Neubau des Reaktors und dem Bestreben, die britische U-Boot-Flotte zu modernisieren. Denn Strom lässt sich auf anderem Wege deutlich günstiger erzeugen“, so Smital.
Weiterführende Links:
Informationen zur Kernenergie in Deutschland
Link zur Studie Gesellschaftliche Kosten der Atomenergie in Deutschland