Klimaneutralität bis 2045 bedeutet: Umbau der Wärmeversorgung

Mario Ragwitz, Professor am Fraunhofer IEG

Mario Ragwitz, Professor am Fraunhofer IEG, Bildquelle: Fraunhofer IEG

Das politische Ziel bis 2024 klimaneutral zu werden, ist allgemein bekannt. Um dieses zu erreichen, muss sich aus Sicht des Akademienprojektes Energiesysteme der Zukunft (ESYS)  das Energieversorgungssystem radikal ändern. Was das für die Versorgung mit Wärme bedeutet, erläutert Mario Ragwitz, Professor am Fraunhofer IEG und einer der Leiter der ESYS-Arbeitsgruppe im Gespräch für die Zeitschrift ew – Magazin für die Energiewirtschaft. Das vollständige Interview ist in ew 4/2023 erschienen. 

Eine gute Nachricht ist: Ragwitz hält Klimaneutralität bis 2045 für erreichbar. Allerdings bedeute das hohe Anstrengungen und eine integrierte Planung des Gesamtsystems. Wesentliche Hebel seien eine Steigerung von Effizienz und Suffizienz, der Aufbau von Erzeugungskapazitäten und einer Infrastruktur auf Basis erneuerbarer Energien und Wasserstoff. Auch Kohlenstoffmanagement müsse Teil der Gesamtstrategie werden. Dazu gehöre der Umgang mit nicht vermeidbaren Emissionen zum Beispiel aus der Zementindustrie und Landwirtschaft.

Szenarien: Sinkender Energieverbrauch – steigender Stromverbrauch

Für das Jahr 2045 ergibt sich aus den ESYS-Szenarien für Deutschland ein Rückgang des Endenergieverbrauchs von heute etwa 2.500 Terawattstunden (TWh) auf 1400 bis 2000 TWh. Je stärker Suffizienz und Effizienz wirkten, desto mehr könne der Energieverbrauch insgesamt sinken. Nicht so allerdings der Stromverbrauch –  dieser verdopple sich in den Szenarien von heute rund 600 TWh auf 1.300 TWh bis 2045, betont Ragwitz.

„Anstelle von Gas werden künftig Wärmepumpen und Wärmenetze die Versorgung übernehmen.“

 Prozesse, die heute auf Erdgasbasis laufen, könnten künftig elektrisch versorgt werden. Dazu gehöre der Gebäudebereich und der gesamte Bereich der Niedertemperaturwärme. Anstelle von Gas sollen künftig Wärmepumpen und Wärmenetze die Versorgung von Haushalten und Niedertemperaturprozessen in der Industrie übernehmen, erläutert Ragwitz weiter. Weitere Stromverbraucher seien Elektromobilität und die Wasserstofferzeugung durch Elektrolyse. Außerdem werden weitere synthetische Brennstoffe strombasiert erzeugt.

„Kommunen müssen festlegen, wo gasbasierte Infrastrukturen oder andere leitungsgebundene Medien wie Wärmenetze benötigt werden.“

Viel Diskussionsbedarf erwartet Ragwitz bei der Neuausrichtung von kommunalen Wärmesystemen, die bisher erdgasbasiert sind.  In einzelnen Bereichen könnten Verteilnetze von Erdgas auf Wasserstoff umgestellt werden. Aber der Großteil der Gebäude werde über dezentrale Wärmepumpen und noch auszubauende Wärmenetze versorgt werden. Nach den Berechnungen von ESYS wird dazu eine Verdreifachung des Neubaus von Trassenkilometern für Wärmenetze benötigt. Gemeinsam mit der kommunalen Wärmeplanung müsse die Energiewirtschaft festlegen, in welchen Bereichen Erdgasnetze auch künftig benötigt werden und wo stattdessen Wärmenetze ausgebaut werden.

Künftige Wärmeerzeugung im Mix aus Abwärme, Geo- und Solarthermie

Solche Wärmenetze seien in allererster Linie für die Versorgung von Haushalten, Gewerbe, Handel, Dienstleistungsbereich und Industrie gedacht. Mögliche Erzeugungsquellen sind erneuerbare Potenziale wie die Geothermie und Solarthermie, Abwärme aus der Industrie und der Elektrolyse sowie Kraft-Wärmekopplungsanlagen bei der Verstromung von Wasserstoff. Zudem seien bei einer Kapazität von 200 GW Photovoltaikanlagen bereits im Jahr 2030 hohe Stromüberschüsse in einzelnen Stunden des Jahres zu erwarten. Diese lassen sich in großen saisonalen Wärmespeichern speichern, wie diese in Dänemark schon heute installiert werden.

„Für die Erdgasverteilnetze gibt es unterschiedliche Nutzungsoptionen.“

Für die heutige Infrastruktur sieht Ragwitz verschiedene Nutzungsmöglichkeiten: Wenn Industrieprozesse versorgt werden, könnte ein Teil der Netzinfrastruktur auf Wasserstoff umgestellt werden. In anderen Bereichen könne das Erdgasverteilnetz auch für alternative Nutzungsoptionen wie für Digital- und Telekommunikationsinfrastruktur eine Rolle spielen. Aber es werde auch Erdgasverteilnetze geben, die zurückgebaut werden. Das sei eine enorme Herausforderung für viele Energieversorger und die Kommunen. Diese Abschreibungen zu planen, ist schon jetzt ein wichtiger Schritt in der Transformation, betont Ragwitz.

Das vollständige Interview ist in ew 4/2023 erschienen.

Link zur ESYS-Studie: https://energiesysteme-zukunft.de