Bestandsaufnahme Energiewende im Januar 2022: Es gibt viel zu tun.

Handelsblatt-Energiegipfel 2022 in Berlin

Hybrider Branchentreff im Januar 2022: Online und auf der Bühne viel Diskussion um die Energiewende. Bildquelle: Handelsblatt-Energiegipfel

Der jährliche Branchentreffpunkt „Handelsblatt-Energiegipfel“ Mitte Januar zeigt die Agenda der aktuellen Energiethemen zu Beginn des neuen Jahres. Für 2022 fällt die Bilanz gemischt aus. Fortschritte bei der Dekarbonisierung gibt es, aber sie bleiben hinter den Zielen zurück. Gesucht wird die konkrete Gestaltung eines neuen Energiesystems und einer klimaneutralen Wirtschaft.

Auf der Branchenveranstaltung zum Jahresauftakt kamen Vertreter aus Energiewirtschaft, Verkehrssektor, Industrie, Politik und Wissenschaft in Berlin und digital zusammen und zeigten insgesamt ein großes Verständnis für den Transformationsprozess und die nötigen Schritte. Dekarbonisierung der Wirtschaft wird vor allem verstanden als eine Stromproduktion aus Strom aus Photovoltaik- und Windanlagen, Gaskraftwerke als Unterstützung sowie eine Wasserstoffinfrastruktur als Speichermedium und Rohstoffbasis für die industrielle Produktion insbesondere in der Chemie- und Stahlindustrie.

Das Ziel: Klimaneutralität und günstige Energieversorgung

Robert Habeck betonte die Notwendigkeit des Umbaus und der staatlichen Unterstützung. Bildquelle: Handelsblatt-Energiegipfel

Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz betonte die Notwendigkeit von Emissionssenkungen in allen Branchen, damit Deutschland bis 2045 klimaneutral werden könne. Er sieht in der Überwindung des fossilen Energiesystems zudem die Chance auf eine günstigere Energieversorgung durch erneuerbare Energien, wenn die nötige Infrastruktur mit Erzeugungsanlagen, Netzen und Elektrolyseuren erst einmal aufgebaut sei. Für Investitionen in die Dekarbonisierung kündigte er staatliche Unterstützung an.

Klimafreundliche Mobilität als persönliche Entscheidung

Neben Energiewirtschaft und Industrieproduktion ist die Transformation auch eine Aufgabe für den Verkehrssektor. Bundesverkehrsminister Volker Wissing appellierte an jeden einzelnen Bürger, einen Beitrag zur Verkehrswende zu leisten. Ob E-Auto, Hybrid, Fahrrad oder öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) – jeder solle entscheiden, welche Form der klimafreundlichen Mobilität für ihn passe. In ländlichen Regionen werde weiterhin der Individualverkehr benötigt, während in den Metropolen ein dichtes Angebot durch den ÖPNV möglich sei. Viele Menschen wünschten sich zudem den Ausbau von Radwegen.

Die Vielfalt der Wege zu mehr Klimaschutz steht auch für den Prozess der Transformation als Ganzes. Zentral bleibt dabei die Frage, was grüne Energie ist und wie diese in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen kann. Auf europäischer Ebene wurde Ende 2021 in der EU-Taxonomie die Klimafreundlichkeit von Investitionsvorhaben definiert. Dieser Rahmen soll Unternehmen zu mehr Transparenz verpflichten und damit  Finanzinvestoren die Bewertung erleichtern, ob eine Anlage nachhaltig im Sinne des Klimaschutzes ist.

EU-Taxonomie zur Bewertung grüner Investitionen umstritten

Auf dem Handelsblatt-Energiegipfel 2022 äußerten sich viele Branchenvertreter kritisch zu den jüngsten europäischen Vorgaben. Im Zentrum der Bedenken stehen die geplanten Bewertungen von Investitionen in Kern- und Gaskraftwerke. Aus deutscher Sicht ist unverständlich, dass die europäischen Vorgaben Investitionen in Atomkraftwerke als klimafreundliche Energieerzeugung einstufen. Zwar entsteht bei der Stromerzeugung kein CO2, allerdings wird die Technologie selbst und die damit verbundenen radioaktiven Abfälle in der deutschen Gesellschaft als ein zu großes Risiko wahrgenommen.

Kritisiert wurden zudem die Vorgaben der EU-Taxonomie für Gaskraftwerke als zu rigide. Die Branche sieht darin einen Widerspruch zum großen Bedarf in Deutschland an Backup-Kraftwerken als Ergänzung zur fluktuierenden Einspeisung aus Photovoltaik und Windanlagen. Die stark einschränkenden Vorgaben in Bezug auf  Größe und technische Ausstattung könnten zur Folge haben, dass Investitionen in Gaskraftwerke ausbleiben.

Abseits der Diskussionen über den Ausbau von Erzeugung, Netzen und Speichern mit vorhandenen Technologien entwickeln sich auch neue Verfahren der Energiegewinnung. Das Startup Marbel Fusion aus München stellte eine Methode vor, mit Lasertechnologie eine Kernfusion zu erzeugen. Die geplanten Kraftwerke sollen in der Lage sein, Strom CO2-frei und sicher zu erzeugen.

Keine Denkverbote: Diskussion über technische Möglichkeiten von Kernfusion, CO2-Abscheidung und Speicherung. Bildquelle: Handelsblatt-Energiegipfel.

Forschung an Fusionskraftwerken

Grundlegend für die Entwicklungen von Marbel Fusion sind Fortschritte bei Lasertechnik und Plasmaphysik. Insbesondere jüngste Innovationen der Laser- und Materialwissenschaft ermöglichten ultrakurzgepulstete, hochintensive Laser und nanostrukturierte Treibstoffe. Bei der Verwendung von Wasserstoff und Bor als Fusionstreibstoffe entstehen nach Unternehmensangaben keine problematischen Abfälle. Fusionskraftwerke könnten nach Einschätzung von Marvel Fusion ab den 2030er Jahren an bestehenden Kraftwerksstandorten alte Anlagen ersetzen und Ballungsräume und energieintensive Industrien versorgen.

https://marvelfusion.com

https://veranstaltungen.handelsblatt.com/energie/

Kernenergie im Rückblick: Anspruchsvoll und umstritten – aber nie billig

Leistungen für die Kernkraft in Milliardenhöhe

Im Zeitraum von 1955 bis 2022 wurde die Kernkraft durch unterschiedliche Maßnahmen unterstützt.

Atomkraft oder Kernenergie – die Technologie changiert heute zwischen „No-Go-Area“ und „Must-Have-Tool“ in einer klimaneutralen Welt. Das Thema polarisiert mit einerseits extremen Risiken und andererseits dem Versprechen, Strom in großen Mengen CO2-frei, wetterunabhängig und kostengünstig zu erzeugen. Eine Studie des Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) hat nun die Kosten der Kernenergie in Deutschland seit 1955 verdeutlicht.

Weltweit sind Mitte 2020 nach Angaben des Branchenverbands Kerntechnik Deutschland in 35 Ländern 440 Kernkraftwerke in Betrieb. In vielen Ländern gehören Atomkraftwerke auch zur Energieversorgung der Zukunft dazu: 54 Anlagen sind weltweit derzeit in Bau. Aus deutscher Perspektive ist die Kernenergie hingegen vor allem eine Technologie der Vergangenheit. Nach Angaben des Verbandes Kerntechnik Deutschland waren im April 2020 noch 6 Kernkraftwerke mit einer Leistung 8.545 MW in Betrieb. 29 Standorte sind bereits stillgelegt, im Rückbau oder bereits nicht mehr vorhanden. Der nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima begonnene schrittweise Ausstieg soll bis 2022 abgeschlossen sein.

Vor 65 Jahren eine Innovation

Die extremen Standpunkte von Befürwortern und Gegnern der Technologie machen es nicht einfach, sich rein rational mit der Kernenergie zu beschäftigen. Unabhängig von der Frage, ob die Anlagen künftig einen Beitrag zur CO2-freien Stromerzeugung liefern sollten, lässt sich aus der Vergangenheit ablesen, was es bedeutet, eine neue, umstrittene Technologie für den Markt zu erschließen.

Ob erneuerbare Energien, Elektromobilität oder Wasserstoff – neue Technologien brauchen oft eine spezielle Infrastruktur, die der Markt allein nicht bereitstellt. Um das legendäre „Henne-Ei-Problem“ zu lösen, ist es notwendig, dass jemand in Vorleistung geht und die Infrastruktur aufbaut, obwohl es kaum Anwendungen dafür gibt. Eine staatliche Förderung von Infrastruktur kann so eine Basis schaffen, auf der innovative Unternehmer agieren können. Ein Blick auf die Hype-Technologie der 1950er Jahre macht deutlich, wie groß der gesellschaftliche Aufwand dabei sein kann.

Finanzhilfen, Steuervergünstigungen und Rückstellungen

Das FÖS beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den staatlichen Unterstützungen, die in die Kernenergie geflossen sind. In der aktuellen Studie „Gesellschaftliche Kosten der Atomenergie in Deutschland“ werden die Kosten der Technologie in den letzten 65 Jahren in Deutschland untersucht. Die Berechnungen im Auftrag von Greenpeace Energy zeigen, wie weitreichend die staatliche Unterstützung war und welche Belastungen noch zu erwarten sind. Unterschieden wird dabei zwischen betriebswirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Kosten. Weiterlesen