Bei der Stromversorgung kommt es auf Genauigkeit an: Erzeugung und Verbrauch müssen jederzeit übereinstimmen. Stimmen die Erwartungen nicht mit Realität überein, muss in Sekundenschnelle reagiert werden. Darüber verständigen sich die Kraftwerke in ganz Europa permanent. Aber auch industrielle Verbraucher sind in der Lage, ihren Stromverbrauch innerhalb von Sekunden zu verändern und damit zur Stabilität des Stromnetzes beizutragen. Damit dies aber in relevanten Größenordnungen geschieht, müssen mehrere Produktionsanlagen in verschiedenen Betrieben gemeinsam gesteuert werden. Jörg-Werner Haug, Leiter Energiewirtschaft, EnerNOC / Entelios AG erläutert im Interview in ew 6/2015 wie das Unternehmen Nachfrageflexibilitäten der Industrie erschließt und damit Regelenergie anbietet.
Eine stärkere Flexibilisierung der Stromnachfrage ist derzeit ein viel diskutiertes Thema – Stichwort Demand Side Management oder Demand Response. Dabei ist die Bezeichnung Demand Side Management ist schon länger gebräuchlich. In den USA wurde unter dieser Bezeichnung in den 1970er Jahren ein Konzept entwickelt, um Engpässe bei der Stromerzeugung nicht nur durch Zubau von Kraftwerken oder Netzen, sondern auch durch Lastanpassungen auszugleichen, erläutert Haug. Mit Demand Response, wird die schnelle Reaktion eines Verbrauchers auf eine Anforderung – beispielweise zur Sicherung der Netzstabilität – zum Ausdruck gebracht.
Neue Aufgabenstellungen brauchen neue Akteure, die sie lösen können. So fasst ein Aggregator wie das Unternehmen EnerNOC Flexibilitäten von Verbrauchseinheiten und dezentralen Erzeugungseinheiten zusammen und bietet diese z.B. am Regelleistungsmarkt als Sekundär- oder Minutenreserve an. In Deutschland hat dieses Marktsegment noch eine Reihe von Zugangsbeschränkungen. Anbieter von Regelenergie müssen beispielsweise mindestens 5 MW Leistung garantieren können. Das ist für klassische Stromerzeuger relativ leicht zu bewerkstelligen: Die Flexibilität konventioneller Kraftwerke liegt häufig um ein Vielfaches über dieser Größenordnung, kleinere Anlagen können in virtuellen Kraftwerken zusammengeschlossen werden. Aber auch die Nachfrageseite lässt sich steuern: Wer Nachfrageflexibilitäten als Regelleistung anbieten möchte, kann ebenfalls mehrere Verbraucher poolen, um den Anforderungen zu genügen. In Deutschland ist diese Marktrolle des Bündelns von Stromnachfrage durch unabhängige Anbieter, die selbst nicht als Stromlieferanten auftreten, bisher wenig bekannt. In anderen Märkten wie in den USA oder auch bei einigen europäischen Nachbarstaaten ist das durchaus üblich, berichtet Haug.
Bisher gibt es aber keine Standards für das Zusammenspiel mit weiteren beteiligten Akteuren wie den Bilanzkreisverantwortlichen oder den Stromlieferanten der Verbraucher. Gerade die Stromlieferanten haben häufig kein Interesse an Maßnahmen zur Reduktion des Stromverbrauchs – sie möchten lieber Strom verkaufen. Die Stromlieferanten, häufig identisch mit dem Bilanzkreisverantwortlichen, beschaffen planmäßig Strom für ihre Industriekunden. Wenn diese Verbraucher dann das Kontingent nicht abrufen, da sie ihre Anlage zur Netzstützung herunterfahren, möchte der Lieferant einen Ausgleich für den nicht abgenommenen Strom. Dafür gibt es bisher in Deutschland – anders als beispielsweise in der Schweiz oder in Frankreich – keine standardisierten Verfahren. Die Grundlage sind derzeit bilateral zu verhandelnde Verträge zwischen den Aggregatoren und den Lieferanten/Bilanzkreisverantwortlichen. Diese Verhandlungen sind nicht immer einfach, denn hier prallen entgegengesetzte Geschäftsinteressen aufeinander.
Perspektivisch könnten Verbraucher ihre Flexibilität auch an der Strombörse vermarkten. Die EEX entwickelt derzeit erste Produkte für Flexibilitäten. Bisher wird die Stromnachfrage eher starr im Marktmodell berücksichtigt. Wenn wir tatsächlich in Zukunft größere Preisschwankungen bekommen, könnte sich das ändern. Bei sehr hohen Preisen wird es für Verbraucher attraktiver, zeitweise auf Stromverbrauch zu verzichten. Umgekehrt wird bei negativen Strompreisen der eine oder andere Betrieb seinen Prozess hochfahren und die günstige Energie nutzen wollen. Wenn die Marktregeln stimmen, wird sich auch die Nachfrage stärker an das Angebot anpassen. Dass Verbraucher flexibel reagieren können, zeigen Erfahrungen aus anderen Ländern. In Märkten mit diskriminierungsfreien Regeln für die Nachfrageseite, wie etwa in zahlreichen Bundesstaaten der USA oder in Australien, sind bis zu 10 Prozent der Spitzenlast flexibel. Für Deutschland entspräche dies 8 bis 9 GW. Noch gibt zu wenig Anreize, die Stromnachfrage dem Angebot anzupassen. Hier brauchen wir verlässliche Standards – und Aggregatoren, die solche Potenziale erschließen.
Das vollständige Interview ist in ew 6 /2015 erschienen.